Naivität

In einem bestimmten Sinne halte ich Naivität für eine der besten Eigenschaften, die Leute haben können.
Nämlich als das Gegenteil von Schubladendenken, Vorurteilen oder auch zynischem immer schon das schlimmste ahnen. Das, was Leute oft als Naivität schimpfen, ermöglicht es, Situationen, Menschen, Dinge oder Sachverhalte wahrnehmen zu können, ohne sofort ein angeblich sicheres Urteil darüber zu fällen und dann keine weiteren Fragen mehr zu stellen.
Diese Art von Naivität ist eine Grundkompetenz für Forscher_innen, der ich in der Wissenschaft leider selten begegne.
Regelrecht bewundernswert finde ich es aber, Leute mit ihren Quirks und Eigenheiten einfach hinnehmen zu können. Sie nicht innerlich einzusortieren,  zu maßregeln, zu überhöhen oder auszusortieren. Sondern einfach wahrzunehmen.

Vom Glauben an die Rationalität

Immer wieder begegnet mir die Idee, Gedanken wären etwas fundamental anderes als Gefühle und außerdem besser / sinnvoller / whatever. Es gibt zum Beispiel diese Vorstellung von den Gefühlen, die das Denken behindern. Von der reinen, kalten Rationalität, die die besseren Entscheidungen trifft. Menschen werden immer wieder aufgefordert, sich zum Beispiel bei professionellen Tätigkeiten nicht von ihren Gefühlen beeinflussen zu lassen. Oder sie entschuldigen sich im Fall einer “Fehlentscheidung” damit, dass ihnen das passiert sei.

Anhänger_innen der Idee von der reinen Rationaliät verachten Emotionalität. Zumindest halten sie diese für untergeordnet. Weil “unlogisch”.

1) Denken und Fühlen gehört zusammen

Das stimmt aber nicht. Gefühle sind nichts fundamental anderes als Gedanken. Sie sind überhaupt nicht voneinander abzugrenzen. Vielleicht sind sie sogar identisch.

Bei dem, was wir mit “Gefühl” oder “Gedanke” bezeichnen, handelt es sich in beiden Fällen um Gehirnaktivität. Gefühle sind nicht im Bauch und Gedanken im Kopf. Beides ist im Gehirn. Beides ist subjektiv. Beides hängt davon ab, wie Personen sozialisiert sind, welche Werte oder Überzeugungen sie haben, wovon sie geprägt sind. Und keines ist sinnvoller als das andere.

Selbst solche Dinge, die wir im Körper spüren, wie Schmerzen oder Berührungen, müssen erst im Gehirn interpretiert werden, damit wir sie als solche verstehen. Genauso kann der Kopf so etwas wie Schmerzen als Eindruck entstehen lassen, auch wenn es gar keine äußere oder körperliche Ursache gibt. Oder einen Impuls ausblenden, so dass wir zwar ein körperliches Problem haben, es aber nicht bewusst wahrnehmen.

Darin liegt wahrscheinlich der größte Unterschied in der Wahrnehmung von etwas als Gedanke im Gegensatz zum Gefühl: Es ist etwas Bewusstes, Ausformuliertes oder Ausformulierbares. Und hier wird es interessant: Was ist der Gedanke, bevor ich ihn formulieren kann? Oft kann ich nämlich nicht ganz genau sagen, warum ich eine bestimmte Entscheidung jetzt richtig finde. Es ist mehr ein Gefühl und erst nach längerer Beschäftigung damit kann ich sagen, was die Gründe dafür sind. Die Gründe waren mir zuerst nicht so bewusst, vielleicht werden sie es auch nie alle. Eine Rolle gespielt haben sie bei der Entscheidung aber trotzdem. Und ehrlich: Wer kann denn schon bis ins letzte Detail eigenes Verhalten oder Argumentationen schlüssig begründen, selbst wenn si*er die für ganz rational hält?

Es gibt Gedanken so wie Gefühle, derer ich mir bewusst oder unbewusst bin. Und bewusste, ausformulierte  Gedanken, die eigentlich mehr Gefühle sind, zum Beispiel “Das schaff ich nie.”

Gefühle sind jedenfalls schneller als Gedanken – oft erfassen wir eine Situation emotional-intuitiv und reagieren passend, bevor wir überhaupt dazu gekommen wären, darüber nachzudenken. Oder sind das halt schnelle, unbewusste Gedanken?

Es kommt auch vor, das ich morgens über ein Problem grübele, es dann den Tag über “vergesse” und in dem Moment, wo ich abends mein Büro abschließe, zum Bus gehe und mich wieder etwas entspanne, mir lauter gute Ideen zu dem Problem von heute morgen kommen. Obwohl ich gar nicht mehr bewusst darüber nachgedacht habe. Ich habe es nicht gemerkt, aber mein Gehirn hat an dem Problem festgehalten und weitergearbeitet. Ist das jetzt das, was wir unter Denken oder Rationalität verstehen? Eigentlich nicht, oder? Aber reines Gefühl ist es auch nicht.

Damit ich gute bewusste Gedanken fassen kann, ist es außerdem wichtig, dass ich zu der Fragestellung auch irgendwie eine gute Beziehung habe oder eine aufbauen kann. Richtig gut denken kann ich auch nur zu Themen, an denen ich ein Interesse habe, an denen ich zumindest etwas finden kann, mit dem ich mich identifiziere, oder die einfach Spaß machen. Gute Gedanken mit schlechten Gefühlen sind dagegen nicht so gut möglich – weshalb Lernen unter Druck und Angst meistens nicht gut funktioniert. Vielleicht geht es noch, sich kurzfristig was reinzupfeifen (und zur Klausur wieder auszuspucken) aber langfristig ist das schnell wieder weg. Das ist auch so, wenn der Kontext oder ein eigener Bezug zu der Sache fehlt, wodurch oft so etwas wie Vokabeln oder Jahreszahlen lernen nur als frustrierend empfunden wird und auch einfach nichts hängen bleibt. Andersrum funktioniert das auch: In einem entspannten Kontext, wenn ich nicht grade dringende andere Sorgen habe, womöglich noch zusammen mit geschätzten Menschen, die das Thema auch interessiert, kommen mir viel schneller mehr Ideen, die mir dann auch mehr Spaß machen, als wenn ich in meinem grauen Büro sitze und verzweifelt versuche, schnell etwas schlaues zu schreiben.

Und dann gibts da noch unterschiedliche Zugänge: Ja, ich kann eine Sprache lernen, indem ich Grammatikregeln bewusst verstehe, die Bedeutung von Wörtern auswendig lerne und die Wörter dann nach den Grammatikregeln aneinanderreihe. Das ist aber ziemlich mühselig. Selbst im Französisch-Unterricht in der Schule lernen wir einen großen Teil eben doch anders, durch kreativen Umgang, durch trial and error, durch Kommunikation. Ich kann eine Sprache nämlich auch lernen, indem ich versuche, mit Leuten zu kommunizieren oder ihnen auch einfach zuhöre. Babys und kleine Kinder lernen Sprachen immer so, und das sehr effektiv. In unseren Muttersprachen können wir daher selten formulieren, warum die eine Form korrekt ist und die andere nicht. Wir haben es eben im Gefühl und das Gefühl funktioniert meistens besser als Erklärungsversuche. Und das ist nicht nur mit Sprachen so. Die meisten Sachen haben wir schon nur so halb bewusst gelernt und wenn wir sie hinterher gut können und dann vollständig erklären wollten, wie man zum Beispiel auf den Fingern pfeift, das Bad putzt, diverse Maschinen bedient oder eine Abrechnung macht, ist das viel schwieriger, als die Tätigkeit selbst.

Und was ist überhaupt eine Idee? Bevor ich die formulieren kann, ist etwas Spannendes, Hilfreiches, was mir einfällt, meistens erstmal ein gutes Gefühl, zu dem mir dann langsam Begründungen bewusst werden. Ich könnte nicht sagen, wo da die Grenze ist.

Nach allem, was ich weiß und erlebe, kommt mir die Idee von einer überlegenen, abstrakten oder irgendwie weltanschaulich neutralen Rationalität ziemlich absurd vor. Wenn Menschen denken oder fühlen, tun sie das nun mal als subjektive Individuen mit einem bestimmten Hintergrund, mit eigenen Bedürfnissen, Interessen oder Überzeugungen. Wenn ich nachvollziehen will, was eine andere Person sagt, denkt oder tut, muss ich immer ein Stück weit auch diese Person verstehen.

2) männliche Gedanken – weibliche Gefühle?

Warum aber Gefühle als etwas fundamental anderes und etwas schlechteres wahrgenommen werden als Gedanken, hat auch viel mit dem Patriarchat zu tun. Die Trennung Mann – Frau wurde und wird identifiziert mit der Trennung Geist – Körper und der Trennung Rationalität – Emotionalität. Mithu Sanyal erklärt das in dem Vulva-Buch ganz gut, ich bin da kulturgeschichtlich nicht so bewandert, aber es leuchtet mir sofort ein, weil es zu meiner Alltagserfahrung passt. Gefühle werden abgewertet, wie Frauen abgewertet werden und als etwas fundamental anderes konstruiert. Das hat etwas Irrationales 😉 Es erklärt zugleich aber auch, warum der Unterschied immer noch von vielen so hoch gehalten wird. Es hat etwas mit Identifikation zu tun, mit dem eigenen Selbstbild und der Verortung in der Gesellschaft. Das verlässt die Ebene Gedanken/ Gefühle und gehört zu den dahinter liegenden Überzeugungen. Die Art, wie der angebliche Unterschied hochgehalten wird, hat für mich oft etwas religiöses, dogmatisches. Darüber lässt sich dann schlecht diskutieren.

3) Warum manche Gefühl-Gedanken trotzdem unvernünftig sind

Ich halte Gefühle jedenfalls nicht für etwas anderes, Untergeordnetes, sondern für einen sehr wichtigen Teil meiner Denkprozesse. Sie zeigen mir an, wo ich Vertrauen habe oder wo ich Probleme erwarte oder ob jetzt grade ein guter Zeitpunkt für das an sich gute Vorhaben ist. Und das nicht einfach so, sondern weil sie auf Erfahrungswissen gründen. Ich kann versuchen, das Gefühl zu fomulieren und die impliziten Begründungen zu finden und dabei eine Menge über die Fragestellung lernen, um die es geht. Und nebenbei auch überprüfen, wo da vielleicht doch her nicht so sinnvolle Vorurteile o.ä. eine Rolle spielen. Welche Überzeugungen mit rein spielen könnten. Ich muss dabei auch auseinanderhalten, ob es sich bei etwas zum Beispiel um eine Behauptung oder eine voraussetzungsvollere Analyse handelt. Aber auch dabei hilft mir erstmal das Gefühl.

Nachdem wir das klargestellt haben: Ich verstehe trotzdem auch, was Leute meinen, wenn sie sagen, dass die Emotionalität das Denken behindert. Oder fordern, dass andere sich rationaler verhalten sollen. Ich würde dafür allerdings einen anderen Begriff wählen. Vernünftig gefällt mir zum Beispiel besser. Das hat was von Ruhe bewahren, erstmal durchatmen, abwägen. Oder das englische sane, mangels einer guten Übersetzung. Ich glaube, dass es Gefühle gibt, die für das Verstehen der Welt hinderlich sind. Ich habe als Erwachsene eine Menge Gefühle, die aus meinem Prozess vom Entdecken und  Verstehen der Welt um mich herum entstanden sind und die für diesen Prozess weiterhin nützlich sind. Aber ich habe auch eine Menge Kurzschlussgefühle und -gedanken, die alt und tief verwurzelt sind, und aus Situationen kommen, wo ich die Welt nicht so gut verstanden habe, keine Lösungen in Sicht waren, und ich daher auf Notlösungen zurückgreifen musste. Siehe auch hier. Daraus entstehen Gefühle, die immer wieder neu und immer wieder gleich auftreten und die sich bei genauerem Hinsehen nicht durch die aktuelle Situation erklären lassen. Plötzliche unbändige Wut im Straßenverkehr zum Beispiel. Oder schreckliche Angst vor einer Situation auf der Arbeit. Warum? Die kann mir persönlich eigentlich gar nicht so viel anhaben, wie es mir in dem Moment vorkommt. In solchen Situationen widerspricht das Gefühl einem Teil von meinem Wissen und verhindert unter Umständen, die Situation klar zu sehen und so zu handeln, wie ich es etwa einer anderen Person in der gleichen Lage raten würde. Aber: Dabei geht es nicht um Gefühle allgemein. Es sind bestimmte Gefühle, die alle Menschen haben, die aus bestimmten Gründen meistens vor langer Zeit entstanden sind und immer wieder herbei getriggert werden können. Es sind Gefühle, die lügen. Und eben nicht nur Gefühle. Sie kommen mit diesen Sätzen, die einfach nicht hilfreich sind. Die Sätze enthalten oft Wörter wie “nie” und “immer” und werden in Beziehungsstreitigkeiten auch gerne gegen andere gerichtet.

Diese bestimmte Klasse von Gefühl-Gedanken stört – auch nicht immer – bei vernünftigem Handeln. Es ist nützlich, sie kennenzulernen und identifizieren zu können. Damit umgehen zu lernen.

Nicht nützlich ist, aus dieser Erfahrung zu schließen, dass Gefühle an sich irrational und hinderlich wären, oder (sehr männlich..) “beherrscht” werden müssen. Gefühle verstehen hat mich jedenfalls deutlich weiter gebracht als alle Beherrschungsversuche.