identitäre kackscheiße, oder: wenn du ein dogma draus machst, ist es eigentlich immer falsch

ich schrieb letztes jahr mal darüber, dass es ein guter respektvoller umgang sein kann, menschen zu fragen oder mit ihnen darüber zu sprechen, bevor man sie anfasst / wenn man sie anfassen möchte. seither ertappe ich mich dauernd bei dem gedanken “oh gott, jetzt habe ich §person berührt und was ist, wenn ihr das nicht recht war und bin ich jetzt nicht überhaupt ein schlechter, übergriffiger mensch?!” aber surprise – es ist auch möglich, noch hinterher drüber zu reden, nachzufragen, sich gegebenenfalls zu entschuldigen und was anders zu machen. beziehungen können was aushalten. und manchmal ist es in der situation eben sogar besser für alle beteiligten, nicht darüber zu reden. dass meine selbst aufgestellte regel kein dogma ist, das unter allen umständen gelten muss und zum erwünschten ergebnis führt, überrascht mich immer wieder.

vielleicht bin ich da auch speziell, ich hatte mir früher wirklich viele regeln ausgedacht und mir dann vorgestellt, wenn ich die alle befolge, dann bin ich der mensch, der ich eigentlich sein will.

aber ich glaube, dass die vorstellung vom richtig und falsch machen gesellschaftlich total verankert sind. und noch wichtiger ist das tiefe menschliche bedürfnis, dazu zu gehören, bzw. zu den “richtigen” menschen dazu zu gehören. diese beiden sachen gehören nämlich auch zusammen. richtig machen muss man sachen, um nicht ausgestoßen zu werden. früher in meiner dorfkindheit gab es unzählige regeln und es war klar, dass wer sich nicht befolgte oder nicht kannte, eben nicht dazu gehörte und komisch war.

mir fällt das oft schwer, aber oft ist es ebenso wichtig zu wissen, wann die regel zutrifft und hilfreich ist, wie es wichtig ist, die regel überhaupt zu kennen. und manchmal hindert die regel auch daran, überhaupt die situation richtig beurteilen zu können. sie ist so eine art gedankliche abkürzung, die an einer stelle das denken spart, und auch das kann 1 im zweifelsfall auch mal auf die füße fallen. manchmal folge ich der regel und ärgere mich hinterher, dass ich mich nicht statt dessen auf meine intuition verlassen habe. und manchmal hält es auch davon ab, weiterzudenken oder auch das gedachte umzusetzen, wenn man meint, die “lösung” gefunden zu haben. gerade wenn es um den umgang mit anderen menschen geht, ist es eben doch sehr abhängig von den einzelnen menschen und dem verhältnis zu ihnen, was jetzt grade das angemessene verhalten ist.

besonders doof ist die dogmatische anwendung von (eigentlich guten) regeln, wenn sie genutzt wird, um sich als gruppe von einzelnen mit erhöhtem empörungspotenzial abzugrenzen und dadurch gruppenzusammengehörigkeit zu zeigen. klassischer ausgrenzungsmechanismus. so wie in dem dorf-beispiel.
oder in solchen argumentationen wie “als linke_r / feministi_n/queere person/ally… kannst du aber nicht […] tun”.
oder noch absurder: “mit […] reden”.
oder noch absurder mit dem zusatz “sonst bist du ein arschloch”.

und plötzlich sind leute an sich, als person scheiße, weil sie irgendwas mit religion machen, oder weil sie kiffen und bier trinken oder eben nicht, weil sie dreads tragen oder kleider, weil sie sachen mögen, die lena dunham macht, oder antje schrupp, weil sie bei primark einkaufen oder auch im biomarkt, weil sie nicht aktivistisch genug sind, oder sich in den falschen projekten engagieren, alles wahlweise superwichtig oder ganz schlimm, je nach identitätszugehörigkeit.

ja, klar, es gibt bestimmte dinge, mit denen wir uns identifizieren, die wir vielleicht für geteilte werte oder theorien gehalten haben und sind überrascht, wenn eine person sich mit dem gleichen label identifiziert, aber dann doch nicht die gleichen dinge liest / kauft / verurteilt. oder wenn andere etwas nicht einsehen, dass für uns doch so klar erscheint. und vielleicht wollen wir das auch nicht unbedingt hundertmal erklären oder ausdiskutieren und das kann dann nerven. aber das verhalten kann halt auch gründe haben, die wir vielleicht nicht bedacht haben oder nicht bedenken konnten, weil uns der kontext nicht klar war. und schon gar nicht kann es dann ausreichen anhand des verhaltens die ganze person zu be- bzw. verurteilen und in schubladen zu stecken. bei nahen und gemochten menschen bedenken wir oft noch deren voraussetzungen und hintergründe, bei anderen eher weniger.

diese kurzschlussreaktionen, in denen leuten dann ihre eigene identifikation abgesprochen wird oder sie gleich ganz zum arschloch erklärt werden, sind ja jedenfalls auch nicht besonders respektvoll oder reflektiert. besonders wenn der anspruch erhoben wird, das handeln einer person beurteilen zu können, ohne sich überhaupt näher anzugucken, was da genau passiert. da gehts eher um ein “du gehörst nicht zu uns”, wobei das “wir” ein ziemlich fragiles konstrukt ist, wenn es daran hängt, dass “wir” nichts “falsch” machen. manchmal ist die empörung total gerechtfertigt und sinnvoll. und manchmal ist es identitäre kackscheiße.
ich habe diese kurzschlussgedanken auch oft genug und manchmal sage ich die auch, aber das macht es nicht besser.

ohne falsch machen kann man es halt auch gleich lassen. ohne fehler gibts keine bewegung, kein lernen, keine verständigung. und also auch kein “wir”.

grade als mensch mit viel erfahrung vom ausgegrenzt werden/sein, will ich das doch eigentlich anderen gegenüber anders machen, wenn es da schon mal eine gruppe gibt, zu der ich irgendwie mehr oder weniger gehöre. oder?

loosely related:

@natollie über das #waagnis (“Also folgt Tweet auf Blogeintrag auf Hashtag auf Rant, Emotionen kochen hoch, und am Ende sind wir wieder bei: Being a woman. U R DOIN IT WRONG.”)

@lightsneeze über allys (oder lieber nicht allys) und das zuschreiben und aberkennen von labels

@kathrynschulz on being wrong (TED talk)

@khaoskobold über rassismus

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